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«Ich hänge mein Herz eher nicht an Dinge»

Seit dem Jahr 1996 führt Ursula Tischner mit Econcept eine Agentur für nachhaltiges Design. Die Spezialistin beantwortet fürs «Interieur» die brennendsten Fragen rund um Ökologie und Kreislaufwirtschaft.

Die Kreislaufwirtschaft ist zuweilen in vieler Munde. Wo ist diese im ökologischen Kontext einzuordnen?

Ursula Tischner: Die Kreislaufwirtschaft ist eine Wirtschaftsweise, in der möglichst viele Produkte, Komponenten und Materialien in Kreisläufen geführt werden. Und das auf möglichst hohem Qualitätsniveau.
Vor dem Recycling stehen also die direkte Wieder- und Weiterverwendung von Produkten (Reuse, Repair, Refurbishing), dann das Weiterverwenden von Komponenten (Remanufacturing) und schliesslich erst am Ende das Materialrecycling.
Dabei unterscheiden wir technische und biologische Kreisläufe: Also technische, wenn technische Produkte z.B. repariert und wieder eingesetzt werden oder technische Materialien werkstofflich rezykliert werden. Und biologische, wenn biobasierte Produkte und Materialien zurück zur Natur geführt werden, wo sie zu Nahrung für biologische Systeme werden. Das bedeutet aber, dass sie keinerlei für die Natur schädliche Stoffe enthalten dürfen.

Und historisch gesehen?

Kreislaufwirtschaft ist nichts Neues. In der Frühgeschichte der Menschheit lebten Menschen weitgehend mit den Kreisläufen der Natur. Manche Naturvölker machen das immer noch. Sehr viel später – nach der Industrialisierung und der Erkenntnis, dass wir Menschen mit unserem Hunger nach Ressourcen unsere Lebensgrundlagen zerstören – wurde die Kreislaufwirtschaft als Lösungsstrategie wieder entdeckt. Im Jahr 1976 verabschiedete der US-Kongress den Resource Conservation and Recovery Act , um Abfallvermeidung, Recycling und Ressourcenschonung zu fördern. So entstanden die 3 Rs (Reduce, Reuse, Recycle) als Slogan, um die Idee der Bevölkerung zu vermitteln. In Deutschland wurde 1996 ein Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz verabschiedet, das 2012 überarbeitet und aktualisiert wurde. Beide Gesetze wurden im Rahmen von Abfallvermeidungsansätzen entwickelt, das heisst sie gehen das Problem eher aus der Abfallperspektive an.

Gab es auch in der Schweiz eine entsprechende Bewegung?

In den 1980er-Jahren erarbeitete Walter Stahel vom Institut für Produktlebenszyklusforschung in der Schweiz Strategien zur Verlängerung der Produktlebensdauer und prägte den Begriff der «Performance Economy». Ende der 1990er-Jahre wurde das Cradle-to-Cradle-Designprinzip vom deutschen Chemiker Michael Braungart und dem amerikanischen Architekten William McDonough formuliert. Sie schlugen vor, Produkte so zu gestalten, dass Materialien in natürlichen oder technischen Kreisläufen wiederverwendet werden können, sodass Reststoffe zu Nährstoffen werden (McDonough & Braungart 2002). Schliesslich nahm die Ellen MacArthur Foundation das Thema auf und die Europäische Kommission formulierte Ansätze und einen Aktionsplan zur Europäischen Kreislaufwirtschaft. All diese Kreislaufwirtschaftsstrategien sollten auf der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen basieren und durch neue zirkuläre Geschäftsmodelle unterstützt werden. Die Digitalisierung kann als Möglichmacher für diese Kreislaufsysteme dienen (vgl. auch Circular Economy Initiative Deutschland).

Sind die Entwicklung und Produktion von Gütern und ökologisches Handeln nicht grundsätzlich ein Widerspruch?

Ich denke nicht, es müssen nur die «richtigen» Güter sein, die in den «richtigen» Geschäftsmodellen angeboten werden. Selbstverständlich ist die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft kein gangbares Modell und wir sollten aufhören, Güter zu produzieren, die eigentlich kein Mensch und kein Tier braucht. Wenn wir nur die Güter gestalten und produzieren, die wir tatsächlich brauchen, um unsere wichtigsten Bedürfnisse zu befriedigen, wenn diese angemessene Lebens- und Nutzungsdauer hätten und wenn wir Produkte, bei denen das möglich und sinnvoll ist, in alternativen Geschäftsmodellen führen würden, wie «Products as a Service», könnten wir mit einer deutlich geringeren Anzahl an materiellen Produkten dennoch gut leben.  Das bedeutet natürlich auch, dass wir weniger produzierende Unternehmen, dafür mehr Serviceanbieterinnen und -anbieter hätten, dass wir weniger konsumieren würden und so auch weniger Geld ausgeben und weniger Einkommen generieren müssten und dass wir die Güter den veränderten Nutzungsweisen entsprechend gestalten müssten. Die Idee des unbegrenzten Wirtschaftswachstums müsste hier auch auf den Prüfstand gestellt werden.

Warum ist es heute so wichtig, in Materialkreisläufen zu denken?

Wir geraten an allen Ecken und Enden an die Grenzen des Wachstums und die planetaren Grenzen der Erde. Johan Rockström und sein Team vom Stockholm Resilience Centre haben neun sogenannte planetare Grenzen beschrieben. Ihren Untersuchungen zufolge hat die Menschheit bereits die Grenzen im Bereich des Klimawandels, beim Verlust der biologischen Vielfalt, bei der Verschiebung von Nährstoffkreisläufen (Stickstoff und Phosphor, die für die Landwirtschaft, d. h. die Nahrungsmittelproduktion, sehr wichtig sind) und die Landnutzung bereits deutlich überschritten. Zusätzlich sind die planetaren Grenzen in Bezug auf Umweltschadstoffe und andere «neuartige Stoffe», einschließlich Plastik überschritten. Die Kreislaufwirtschaft kann hier abmildernd eingreifen, weil sie Potenzial hat, das Entnehmen von Stoffen aus der Natur und das Ausbringen von Schadstoffen und Abfällen zu verringern. De facto ist dieser Effekt aber noch marginal und wird oft durch mehr Konsum oder die sogenannten Rebound-Effekte aufgefressen. Da muss noch ganz viel passieren.

Welche Materialien kommen konkret für Materialkreisläufe infrage?

Alles, was sich gut technisch recyceln lässt, also Metalle, Glas, thermoplastische Kunststoffe, oder was gut in den biologischen Kreislauf zurück geführt werden kann, wie stärkebasierte Materialien, unbehandelte biologische Stoffe, Holz, Stroh, Pflanzenfasern und so weiter.

Sind Kunststoffe so schlimm wie es oft heisst?

Das kommt darauf an. Es gibt Millionen unterschiedliche Kunststoffe, da fällt eine Pauschalantwort schwer.

Was ist das Schlimme daran?

Das Umweltproblem bei den Kunststoffen ist ihre lange Haltbarkeit, wenn sie am Ende ihres Lebens in der Umwelt landen. Hier hat man zwei Hebel: Entweder man darf die Kunststoffe nicht in der Umwelt landen lassen, oder man muss sie bio-kompatibel gestalten. Wenn ich also ein hochwertiges Produkt aus hochwertigen Kunststoffen gestalte, das ich am Ende des Lebens zurücknehme, und dann das Kunststoffmaterial wieder einsetze, kann man das Material Kunststoff durchaus empfehlen, da es ganz wunderbare Eigenschaften besitzt. Bei der biologischen Abbaubarkeit gibt es derzeit für viele Bio-Kunststoffe noch die Problematik, dass sie in industriellen Kompostieranlagen kompostiert werden müssen und in Gewässern oder Böden gar nicht so einfach verrotten. Damit ist also nicht sehr viel geholfen. Allerdings ist die Alternative, Plastik durch Papier zu ersetzen, auch nicht besser: In der Ökobilanz schneidet Papier in der Regel schlechter ab als ein thermoplastischer Kunststoff.

Kennen Sie ein besonders geeignetes Materialbeispiel oder eine Fallstudie?

Die modular aufgebauten Möbel der Firma Wye überzeugen nicht nur mit einem zeitlos-eleganten, funktionalen Design, sondern Wye verwendet zur Herstellung seiner Möbel einen selbst entwickelten, kreislauffähigen Holzwerkstoff, der sich wie Kunststoff verarbeiten lässt. «Neolign» besteht zu 83% aus PEFC-zertifizierten Holzspänen aus Industrieabfällen. Hinzu kommen Polymere sowie Farbpasten, die für eine volle Durchfärbung des Materials sorgen. «Neolign» wird im Recyclingprozess zu Granulat verarbeitet und steht so als Rohstoff wieder zur Verfügung. Wye bietet für seine Möbel einen Rücknahmeservice an. Um den Anreiz zu erhöhen, erhalten alle Kundinnen und Kunden eine Gutschrift in Höhe von 10% des Kaufpreises, wenn sie ihr gebrauchtes Wye-Produkt zurückgeben. Zudem wird für jedes verkaufte Produkt in Kooperation mit PrimaKlima ein Baum gepflanzt.

Bei der Bewertung von Materialien hinsichtlich ihrer ökologischen Leistung landet man unweigerlich bei der Ökobilanz. Was ist eine Ökobilanz?

Eine Ökobilanz oder Lebenszyklusanalyse (LCA) ist ein wichtiges Werkzeug, um lebenszyklusweite Umweltimpacts von Produkten abzuschätzen. Mittlerweile gibt es gute Softwaretools, die es auch uns Designerinnen und Designern erlauben, Screening-LCAs in kurzer Zeit zu erstellen. Wir zerlegen dazu das Produkt in seine Einzelteile und analysieren den Lebenszyklus (Produktion der Materialien, Produktion der Komponenten und des Produktes, Gebrauchsphase, Transporte, End-of-Life-Phase), tragen die Bauteile in die Datenbank ein, samt ihren Materialien und Gewichten, und das Softwaretool ermittelt, basierend auf den hinterlegten Impact-Daten für die Materialien, die Herstellungsprozesse etc., die mit dem Produkt einhergehenden Umweltbelastungen. Oft reichen solche Screening-LCAs, die mit Durchschnittsdaten rechnen, aus, um die wichtigsten Verbesserungsoptionen für Produkte zu ermitteln. Denn darum geht es uns, wir möchten wissen, wo wir mit Verbesserungen ansetzen müssen, um den Umweltimpact eines Produktes deutlich zu reduzieren.

Es ist doch fast unmöglich, für ein Produkt sämtliche grauen Energien aufzulisten. Oder doch?

Das macht die Software für uns: Diese sogenannten Life-Cycle-Inventory (LCI)-Daten kommen aus den Datenbanken der LCA Softwaretools. In der Schweiz gibt es z.B. das Unternehmen Ecoinvent, das so etwas wie die Mutter aller LCI-Datenbanken betreibt. Das sind allerdings Durchschnittsdaten. Wenn ich die spezifischen Daten für eine ganz bestimmte Herstellungsweise in einer ganz bestimmten Fabrik ermitteln möchte, dann wird es komplizierter und zeitaufwändig.

Braucht es neue Materialien, um die Kreislaufwirtschaft in Gang zu bringen, oder ist allenfalls eine Rückkehr zu altbewährten Materialien und Techniken notwendig?

Sowohl als auch: Wir brauchen eine ganze Generation von neuen Ansätzen, die auf der Basis von Reststoffen neue Materialien entwickeln. Ein Beispiel ist hier Tecnaro, die aus Abfällen der Holz und Papierindustrie (Lignin) neue Werkstoffe entwickeln. Ein anderes die Firma ecovative, die Nahrungsmittelabfälle an Pilze (Mycelium) verfüttert, die wiederum in Formen wachsen und so neue, komplett bio-abbaubare Materialien bereits in Form bauen.
Aber auch gute, bewährte Materialien und Produktionsweisen dürfen eine Renaissance erleben. Zum Beispiel wenn es darum geht, langlebige und wertgeschätzte Produkte zu erzeugen. Die Firma Manufactum setzt das sehr gut und erfolgreich um unter dem Slogan «Es gibt sie noch, die guten Dinge».

Sie sprechen oft von Systemen. Was haben Systeme mit Ökologie zu tun?

Kreislaufwirtschaft muss in Systemen denken, sonst funktioniert sie nicht. Einige Beispiele: Ich muss schon im Produktdesign die End-of-Life-Szenarien mitdenken und vorwegnehmen und die Produkte dementsprechend gestalten, damit sie möglichst elegant und effizient wieder in Kreisläufe zurückgeführt werden können, sonst wird eine Rückführung aufwändig, teuer und damit am Ende auch unökologisch. Ich muss ausserdem das kollaborative System der Akteure konzipieren und aufbauen, die an der Rückführung von Produkten, Komponenten und Materialien beteiligt sein müssen. Wie funktioniert die Sammlung, Sortierung, Redistribution, Zerlegung usw.? Wer übernimmt diese Aufgaben? Und wo werden die zurückgenommenen Güter wieder eingesetzt? Am Ende brauchen wir ein «Industrie-Ökologie-System», in dem nicht nur innerhalb einer Wertschöpfungskette, sondern auch zwischen solchen Ketten Komponenten und Materialien ausgetauscht werden. Ganz nach dem Vorbild der Natur. Nichts wird verschwendet, nichts geht verloren, Abfälle gibt es nicht, alles ist Nahrung für andere Akteure. Um diese Kooperationen aufzubauen, braucht es eine systemische Betrachtungsweise. Unser Wirtschaftssystem Schritt für Schritt in diese Richtung umzubauen, ist eine wichtige und drängende Herausforderung – auch damit wir weniger abhängig von der Ressourcenverfügbarkeit in anderen Ländern und Kontinenten werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einen weitgehenden Ansatz bietet die Firma Casala mit ihren «Circular-Furniture». Die Stühle der «Curvy Circular Family» bestehen z.B. aus 100% durchgefärbten Post-consumer-Kunststoff-Rezyklaten, die wieder rezykliert werden können. Die Stahlgestelle enthalten 40% Recyclinganteil. Zusätzlich bietet das Unternehmen ein Rücknahme- und Rückkaufprogramm für eigene Möbel und für Möbel von anderen Anbieterinnen und Anbietern an. So können Kreisläufe geschlossen werden.

Gibt es ein Produkt aus der Designgeschichte, das besonders ökologisch war und es vielleicht immer noch ist?

Ich würde hier den Thonet-Kaffeehausstuhl nennen, der sowohl vom Materialeinsatz als auch von der Produktionsweise damals sehr innovativ war und gleichzeitig heute noch seine Gültigkeit und Berechtigung hat und immer noch millionenfach seinen Dienst tut.

Welches ist Ihr persönliches Lieblingsmöbel?

Ich hänge mein Herz eher nicht an Dinge, aber wenn, dann ist es meine bequeme, alte, dunkelrote Ledercouch, die schon länger im Familienbesitz ist.

Der Couchtisch «Neo» von der Firma Wye besteht aus dem neuen Werkstoff «Neolign».
150-jähriger Klassiker: Der Kaffeehausstuhl «Modell 214» von Thonet erhielt im Jahr 2021 den «German Sustainability Award Design» verliehen. 
Die Sitzschale des Stuhls «Omega» von Casala besteht zu 100% aus recyceltem PET-Filz.
Manufactum bietet zum Beispiel die Tischbeine von Designer Jakob Schenk an. Sie funktionieren über die Federspannung des Stahlrohrs. In der Wahl der Tischplatte sind die Kund*innen frei.
Ursula Tischner arbeitet mit ihrer Firma econcept für Unternehmen, Regierungsorganinsationen, Universitäten oder Verbände.