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Im Flow

Mit Hammer, Meissel und Motorsäge kreiert Nora Engels Möbel und Skulpturen aus Holz. Dies tut sie mit einer schier unbändigen Leidenschaft.

Um 5.30 Uhr klingelt bei Nora Engels der Wecker. Ihren Tag beginnt sie mit Teetrinken und Meditieren. Manchmal gönnt sie sich danach ein Frühstück, doch oft eilt sie direkt in ihr Atelier, das wie ihre Wohnung in Samedan liegt. Hier trinkt sie eine Tasse Kaffee, dann beginnt sie ihren Arbeitstag mit Aufwärmübungen für ihre Gelenke. Denn diese werden für den Rest des Tages stark beansprucht: Nora Engels hat sich nach der Schreinerlehre in Brienz zur Holzbildhauerin weitergebildet und arbeitet seither mit Hammer, Meissel und Motorsäge, deren Handhabung Kraft erfordert. Physische Stärke ist auch für das Hantieren mit dem Ausgangsmaterial nötig. Ihre Sessel und Hockerkuben fertigt Nora Engels aus grossen Holzstücken an, die viel Gewicht auf die Waage bringen.

Für ihre Sessel und Hockerkuben hat Nora Engels den Anerkennungspreis von Prix Lignum erhalten.

«Ich bin weitwinklig unterwegs»

Die Holzbildhauerei ist jedoch nicht nur mit einer gewissen Schwere, sondern auch mit sehr viel Leichtigkeit verbunden: Im Gespräch mit Nora Engels wird schnell deutlich: Hier spricht eine Person, die ihre Passion gefunden hat. Immer wieder vergisst sie bei der Arbeit sogar die Zeit. «Jedes Holz hat eine Seele und eine eigene Sprache. Beides wahrzunehmen, ist etwas unglaublich Schönes. Wenn es mir gelingt, mich auf diese Weise mit dem Holz zu verbinden, falle ich in einen Flow, bei dem alles wie von selbst passiert», erzählt sie. Ihre Inspiration holt sie sich beim Joggen oder Mountainbiken in der Oberengadiner Natur, aber auch im Alltag: «Ich bin weitwinklig unterwegs und schaue im Leben nach links und rechts. Meine Eindrücke wie auch meine Gefühle fliessen in den schöpferischen Prozess mit ein.»

Bei der Arbeit erspürt Nora Engels die Sprache und Seele des Holzes.
Die Menschen-Skulpturen sind so ausdrucksstark, dass sie beseelt scheinen.

Aufs Holz gekommen ist Nora Engels früh: Ihr Vater schuf Holzskulpturen aus Schwemmholz, das er zusammen mit ihr aufgelesen hat. Sie selbst kreiert Unterschiedliches: Nebst den Möbelstücken, für die sie 2024 den Anerkennungspreis von Prix Lignum erhalten hat, erarbeitet sie Skulpturen. Gerade jene von Menschen sind so ausdrucksstark, dass sie fast beseelt scheinen. Rund zweieinhalb Arbeitstage dauert es, bis sie eines dieser rund 20 Zentimeter hohen Werke fertiggestellt hat. Dafür verrechnet sie 1200 Franken. Wer ein kleineres Budget hat, kann dennoch eine Skulptur in Auftrag geben: In diesem Fall schnitzt Nora Engels nur das Gesicht und belässt den Rest eher abstrakt. «Mir ist es wichtig, nicht nur für Kundinnen und Kunden mit einem dicken Portemonnaie zu arbeiten», sagt sie. Gleichzeitig geht es ihr wie allen, die Handwerkskunst betreiben: «Ich muss immer wieder erklären, warum meine Arbeit so ‹teuer› ist.» Den Grund dafür sieht sie darin, dass heute nur noch wenige Menschen in ihrer Freizeit schnitzen und das Wissen, wie lange es dauert, bis ein Werk entstanden ist, verloren gegangen ist.

Nora Engels hat in der Holzbildhauerei einen Beruf gefunden, den sie noch möglichst lange ausüben möchte.

Ausstellung in Schönenwerd  

Ihre Arbeiten hat Nora Engels bereits an Messen in Paris ausstellt. In Zukunft will sie sich mehr ums das heimische Publikum kümmern. Letzten Herbst war sie deshalb an der Blickfang in Zürich anzutreffen, von 7. Juni bis 6. Juli stellt sie im Paul Gugelmann-Museum in Schönenwerd aus. Wer nicht so lange warten mag: Auf Voranmeldung sind Atelier-besuche möglich.